23. April 2024

Anmerkungen zur Ikonographie des Obelisken von Olu Oguibe von Hans Brinckmann

Hans Brinckmann (* 13. Juni 1934 in Hamburg) ist ein deutscher Jurist und ehemaliger Hochschulpräsident der Universität Kassel. Er gilt als ausgewiesener Experte für Umwelt- und Medienrecht sowie der Biopolitik.  (Wikipedia)

Bild: Hans Brinckmann (links, im Gespräch mit Lutz Freyer)

Anmerkungen zur Ikonographie des Obelisken von Olu Oguibe – Für die Sitzung des documenta Forums am 13. März 2018  – von Hans Brinckmann

1. Wer ist das Subjekt der Inschriften, wer ist „Ich“?
Es könnte der Obelisk selbst sein, der als „fremde“ Figur in die Stadt kommt und den die Bevölkerung der Stadt beherbergt (beherbergen soll). Der Künstler selbst betont: „Der Obelisk ist eine zeitlose Form, eine Form, die aus dem Altertum stammt, ursprünglich kam sie aus Afrika.“(1) Der „Fremde“ könnte der Künstler sein, der mit seinem Kunstwerk von der Stadt aufgenommen wird. Es könnte ein ungenannter Fremder, der erklärt, er sei von der Stadtbevölkerung beherbergt worden. Für meine weiteren Überlegungen will ich die ersten beiden Varianten ausschließen und als Subjekt, als „Ich“ der Aussage, den Fremden schlechthin annehmen. 

2. Wer ist der Adressat der Inschriften, wer ist „Ihr“?
Gemeint ist wohl derjenige, der das Kunstwerk wahrnehmen soll: der Küntler spricht mit seiner Aufschrift alle Betrachter an, also Besucher der documenta, die Bevölkerung der Stadt Kassel.

3. Welche Bedeutung haben die Inschriften?

(a) Man kann die Inschriften als umgangssprachliche Aussage nehmen, als anerkennende Feststellung einer Tatsache und damit als Ausdruck des Dankes einer unbekannten Anzahl von Fremden: „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“. Wer sich ein solches Denkmal setzt, lässt sich so Dank und Anerkennung aussprechen, klopft sich also mit einer ziemlich dramatischen Geste auf die eigene Schulter. Kauf und Aufstellung sind also ein Akt des Selbstlobs, über dessen sachliche Berechtigung sich streiten ließe.

(b) Die Inschriften sind aber mehr als umgangssprachliche, sondern religiöse Texte, denn sie sind dem Matthäus?Evangelium zuzuordnen (Matt. 25,35 2. Halbsatz). Zunächst bemerkenswert ist, dass der verwendete deutsche Wortlaut in keiner der bekannteren Bibelübersetzungen gefunden werden konnte, wohl aber in anderen religiösen Texten. Die englische Fassung entspricht genau dem Wortlaut der King James Bible, die türkische Formulierung auf dem Obelisken entspricht nicht der in der im Bibelserver verfügbaren türkischen Fassung des Matthäus?Evangeliums (2) und die arabische Fassung wäre noch zu verifizieren. Bibelübersetzungen unterscheiden sich im Übrigen bei diesem Bibelvers nicht ganz unerheblich, wenn man etwa die Fassung der frühen Lutherbibel nimmt: „Ich bin Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt.“ Was hat also die jeweils gewählte spezielle Wortwahl zu bedeuten, soweit sie nicht wie der englische Text genaues Zitat ist, warum weicht die Aufschrift von gängigen Bibelfassungen ab?

(c) Der den Inschriften zugrunde liegende Vers Matthäus 25,35 ist Teil einer Geschichte, nämlich der Beschreibung des Weltgerichts, des Jüngsten Gerichts. Diese Geschichte findet sich so nur im Matthäus?Evangelium, aber in der religiösen Kunst vielfältig 2 dargestellt worden – Michelangelos Darstellung in der sixtinischen Kapelle ist wohl die spektakulärste: der Menschensohn wird wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheiden, die Gesegneten von den Verfluchten. Der Satz auf dem Obelisken ist ein Teil der Begründung des positiven Urteils über den einzelnen Menschen: Wer die Fremden beherbergt und die weiteren bei Matthäus genannten fünf Liebeswerke erbracht hat, gehört zu den Gerechten, die in das ewige Leben eingehen (25,43). Für den aber gilt „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen“, gehört zu den Böcken statt zu den Schafen: „Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben“ (25,45). Der Text auf dem Obelisken sagt dem Betrachter, er gehöre zu den Gerechten und nimmt so ein positives Urteil des Jüngsten Gerichts vorweg. Sicher ist Matthäus auch als Aufforderung zu den Liebeswerken zu verstehen, durch die sich der Mensch das ewige Leben verdienen kann. Das aber wäre als Aufforderung zu formulieren: „Ihr sollt den Fremden beherbergen, wenn ihr in das ewige Leben eingehen wollte“. Der Obelisk verkündet aber an Stelle der Entscheidung Gottes am Jüngsten Gericht schon heute ein positives Urteil über die diejenigen, die sich dieses Denkmal aufstellen. Sollte man diese Selbstrechtfertigung nicht vielleicht eine Blasphemie nennen?

4. Erklärungsbedürftig ist, dass der Flüchtling, der zu uns spricht, einen, aus dem christlichen Zusammenhang genommenen religiösen Text verwendet. Unter den Migranten sind sicherlich auch Christen, die große Mehrheit derjenigen, deren Sprache verwendet wird – türkisch und arabisch ?, gehört jedoch nichtchristlichen Religionen an. Was bedeutet also die Verwendung eines Satzes aus dem kulturellen Milieu des christlichen Europas für die Botschaft von Fremden aus anderen kulturellen und religiösen Zusammenhängen? Soll das die Dominanz des christlichen Abendlandes und seiner Weltsicht betonen, in dem Sinne, dass sich der Fremde nur in der Sprache der christlichen Kultur verständlich machen kann oder will? Oder sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass der Fremde, wenn er sich bedanken möchte, sich mit seinem Dank an die hiesige Kultur und deren Ausdrucksweise anpassen möge?

5. Der Künstler verwendet für die deutsche Inschrift die ausdrücklich männliche Form – „ich war ein Fremder“ ?, während die englische Inschrift – „I was a stranger“ ? beide Geschlechter umfasst. Ob der türkische und der arabische Text auch eine männliche Form wählen, wäre noch zu prüfen. In gängigen Bibelübersetzungen finden sich einfache geschlechtsneutrale Formulierungen – etwa „Als ich fremd war, habt ihr mich aufgenommen“ in der Neuen Evangelischen Übersetzung. Ist daher die deutsche Inschrift als ein absichtlicher Ausschluss der weiblichen Form zu lesen? Eine Erklärung dafür könnte sein, dass der Künstler sich so von der genderpolitischen Tendenz vieler anderer Kunstwerke der documenta 14 abgrenzen will.

6. Eine weitere Frage, die Inschriften aufwerfen, ist die nach den gewählten Sprachen. Dass die Inschrift auf Deutsch ist, kann man angesichts des Standorts verstehen. Bezieht man die Inschrift auf die aktuelle Flüchtlingssituation, dann ist auch die arabische Fassung verständlich, weil ein Großteil der Flüchtlinge in jüngster Zeit aus arabischen Gebieten gekommen ist. Ihr Anteil an der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist allerdings relativ gering. Aber warum Englisch oder auch Türkisch? Welcher englische Flüchtling spricht zu uns. Die türkische Bevölkerung in Deutschland stellt heute die größte Gruppe unter denen mit (3) Migrationsintergrund dar. Den meisten von ihnen wären wir zu Dank für ihren durch ihre Arbeit geleisteten Beitrag zu unserem Wohlstand verpflichtet, statt dass sie sich bei uns für Beherbergung bedanken müssten. Den weiteren großen Gruppen von Migranten3 gibt der Obelisk keine Stimme, was auch eine Aussage ist.

7. In welche Richtungen die jeweiligen Inschriften schauen ? in Bezug auf Platz und Straßen oder in Bezug auf Himmelsrichtungen ? oder ob die Aufstellung rein zufällig gewählt wurde, wäre noch ikonographisch zu klären. Der Obelisk nimmt keine Himmelsrichtung und keine der Achsen des Königsplatzes auf, zur Königstrasse ist er um wenige Grade gedreht. Die sichtbarste, leicht zur Platzmitte hin gerichtete Inschrift ist arabisch, die türkische blickt zum Citypoint, die deutsche zum Zugang zur Nordstadt durch die Königstraße.

8. Die Botschaft des Künstlers mit ihren vier Sprachen ist auf einem Obelisken angebracht, einer aus dem alten Ägypten stammenden Allegorie der Sonnenstrahlen, die bereits in der Antike nach Rom gelangte. Seit der frühen Neuzeit hat die Form vielfältige Verbreitung gefunden, sowohl zur Akzentuierung von Achsen, Plätzen oder Gebäuden – ein frühes sehr bekanntes Beispiel ist der Obelisk vor dem Petersdom in Rom, der dort 1585 aufgestellt und mit einem Kreuz gekrönt wurde ? als auch für Denkmäler, insbesondere auf Friedhöfen. Der Kunsthistoriker Sedlmayr sagt zur allegorischen Bedeutung: „Nun wird aber nicht nur in der Gestalt des Obelisken (Sonnenstrahl, Finger der Sonne), sondern auch in der Vierzahl seiner Seiten ein sensus allegoricus entdeckt, nämlich der Bezug zur Welt, welcher von alters her die Zahl vier zugeordnet ist.“(4) Angesichts der Nutzung des Obelisken in den unterschiedlichsten Zusammenhängen dürfte es schwierig sein, die afrikanische Herkunft seiner Form mit der Thematik der Migration, insbesondere aus Afrika in einen Bezug zu setzen. Es geht wohl eher darum, die Inschriften zu akzentuieren. Vielleicht wollte der Künstler mit dem Obelisken einen Bezug zu Kassel herstellen, indem er den Herkules zitiert, der auf einer Figur steht, die hierzulande meist Pyramide genannt wird, aber in ihrer Schlankheit auch einem Obelisken entspricht.


(1) Olu Oguibe, auszugsweise Übersetzung aus einem Video documenta 14 artist Olu Oguibe and The Obelisk, artort.tv, 1. September 2017 (YouTube):

Der Obelisk ist eine zeitlose Form, eine Form, die aus dem Altertum stammt, ursprünglich kam sie aus Afrika. Sie reiste um die Welt. Wir nutzen sie in diesem Zusammenhang, um ein universelles, zeitloses Prinzip in die Zukunft zu projizieren: die Idee der Barmherzigkeit und Gastfreundschaft gegenüber Fremden. Aber auch Dankbarkeit gegenüber Gastgebern. Denn ich glaube, Barmherzigkeit und Gastfreundschaft bedürfen letztendlich der Reziprozität. (…) Ich glaube, es ist wichtig festzustellen, dass Gastgebern Kosten erwachsen. Freundlichkeit ist nicht umsonst. Ich interessiere mich mehr für die positive Geschichte der Stadt, eine Stadt, in der Fremde, Besucher, Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt eine Heimat fanden. Das wollen wir anerkennen. Seine Tür einem Fremden zu öffnen ist ein Akt des Vertrauens. All das ist verwoben in den Text, der für die Inschrift gewählt wurde. Er bekräftigt die Notwendigkeit der Gastfreundschaft, er bekräftigt die Notwendigkeit der Reziprozität, der Anerkennung, dass Nächstenliebe ein Vertrauensakt ist. Wenn solche Fremde in eine Gemeinschaft kommen, bringen sie auch etwas mit. Sie bringen Fähigkeiten, sie bringen Diversität, Kultur, sie bringen Küche. So erweitern sie die Gemeinschaft, sie bereichern die Gemeinschaft, (…) sie bereichern die menschliche Erfahrung. Für mich ist das Ziel, einen Raum zu hinterlassen für Reflexion, für Einkehr, vielleicht sogar für Debatte um die Fragen der Gastfreundschaft und Dankbarkeit.

(2) Laut https://www.bibleserver.com/text/TR/Matta25: yabanc?yd?m, beni içeri ald?n?z.

(3) Von der Bevölkerung Deutschlands haben als Migrationshintergrund (Zahlen von 2016) insgesamt 18,5 Mio. und davon2,8 Mio. die Türkei, 1,9 Mio. Polen, 1,2 Mio. Russland, 0,8 Mio. Rumänien, 0,9 Mio. Ex?Jugoslawien, den arabischen Sprachraum 0,85 Mio. und sonstiges Asien 2,2 Mio. . Siehe: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220167004.pdf?_ _blob=publicationFile, Seite 63f

(4) Hans Sedlmayr, Allegorie und Architektur, in: Martin Warnke (Herausgeber), Politische Architektur in Europa Köln, 1984, Seite 161


Auf diesem Blog werden in unregelmäßigem Abstand Meinungen und Beiträge rund um das Thema documenta veröffentlicht. Die hier versammelten Texte geben nicht die Meinung des Vorstands des documenta forums wieder. Vielmehr sollen sie zu einer fundierten und vielstimmigen Diskussion beitragen