24. April 2024

documenta-Momente: Joëlle Tuerlinckx – documenta 11

Heute starten wir eine Serie von Beiträgen, bei denen wir auf die lange Geschichte der documenta zurückblicken. Jeder Autor und jede Autorin spricht über einen oder mehrere besondere documenta-Momente. Den Auftakt macht Jörn Budesheim. Er blickt auf „den Vorschlag für einen Raum im Fridericianum von 15 Min 7 Sek in der Ausdehnung mal 22 Museumsschritten in der Länge“, eine Arbeit von Joëlle Tuerlinckx zur documenta 11 unter der künstlerischen Leitung von Okwui Enwezor.

Joëlle Tuerlinckx wurde 1958 in Brüssel geboren. „Tuerlinckx’ Kunst basiert auf der lang anhaltenden Auseinandersetzung mit einfachen Dingen; Fundstücke oder Gebrauchsgegenstände, die ihren Weg kreuzen und von ihr seit drei Jahrzehnten konsequent in einem umfassenden Archiv gesammelt werden. In ihren Ausstellungen arrangiert Tuerlinckx große Stückzahlen von Wand- und Bodenobjekten, Zeichnungen und Collagen, Vitrinen und Buchserien, Filmen, Videos und Diaprojektionen zu vielstimmigen und spekulativen Ensembles, die Themen der Kunst mit philosophischen Fragen nach dem Wesen und dem Verhältnis von Zeit, Ort und Sprache verbinden.“ (Wikipedia) 

Diese Arbeit hat seinerzeit einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, wie übrigens sehr viele der Arbeiten der d11. Den folgenden Text habe ich kurz nach meinen verschiedenen „Begehungen“ der Arbeit aufgeschrieben. 

17 Schritte

Zu schnell. Nicht schreiten! Schlendern … Ich versuche es noch einmal. 21 Schritte. Schon besser … 22 Museumsschritte entlang einer Linie … Ein Test, ob ich noch museumstüchtig bin? Nein. Joëlle Tuerlinckx‘ Vorschlag für einen Raum im Fridericianum von 15 Min 7 Sek in der Ausdehnung mal 22 Museumsschritten in der Länge. Warum bin ich gleich bereit, diesem Vorschlag zuzustimmen? Vielleicht weil er beiläufig, leicht und hell daherkommt und ich gerade das bedeutungsschwere, schwarze Keller-Archiv von Chohreh Feyzdjou hinter mir gelassen habe? Sicher mit ein Grund.

Ready-Made

Ich mag sofort dieses Ready-Made aus dem Papier-Spender. Ich muss an das berühmteste aller Ready-Mades denken: Auch aus dem sanitären Bereich, aber in der Geste doch ziemlich skandalheischend. Dieses hier – ruhig und zurückhalten – gibt mir augenzwinkernd für einen Moment, was mir auf der documenta 11 manchmal ein wenig fehlt: Farbe, Form, Textur, Papier – doch ohne die schützende Vitrine wäre das grüne Blatt, das Joëlle Tuerlinckx hier im Museum gefunden hat, sicher längst entflogen … (Ich frage mich, warum diese Künstler immer gerade meine Erwartungen unterwandern wollen, welche Erwartungserwartungen die wohl haben?)

Projektionen ..?

Witzig ist auch die „schwarze Umkleidekabine“, die mir zeigt, dass alles, was ich sehe, bzw. empfange postwendend in eine Projektion verkehrt wird und mich so quasi mit dem Dia-Projektor – einen Schritt weiter – gemein macht. Gut gewählt ist die Holz-Latte aus einem Eimer weißer Farbe: Ist das alles, was der White-Cube mir noch zur Malerei zu sagen hat, das Weiß der Wände, eine Erinnerung an Malerei, meine Vorstellung, dass hier mal „gemalt“ bzw. Malerei gezeigt wurde? Ein paar Schritte weiter sehe ich, wie jemand eine Wand weißt, aber ich sehe natürlich nicht „wirklich“ Malerei, sondern nur Projektionen.

Zeichnen und Zahlen

Ich sehe dutzendfach, wie jemand zeichnet. Schön und einfach zeichnet. Ich sehe zeichnen, aber keine Zeichnungen. Ich sehe, wie jemand zeichnet? Ich sehe nur die Hand, die Handlung. Andere Monitore zeigen gefundene Wörter und Zahlen: Wörter, aber keine Erzählung, Zahlen, aber sie zählen nicht.

Fake-Walls

Ich sehe „Fake-Walls“, auf die Bilderschatten geworfen werden: Eine Kirchenwand zum Beispiel. Ursprünglich hingen dort wohl Kacheln. Portugal sei bekannt für seine historischen Kacheln, lese ich in irgendeinem Begleittext. Jetzt sind sie abgeschlagen, gestohlen. Ein Sprayer hat dort, wo zuvor Geschichte hing, seine Botschaft hinterlassen: „Früher gab es hier Kultur und heute null.“ Da wo ehedem Bilder hingen, ist heute nichts? Ich vor der bilderlosen Museumswand und – weit weg – schlummernde Rentner vor der kachellosen Kirchenwand – die Ruhe nach dem Bildersturm.

Zero

Ein weiterer Ready-Made-Text: „Zero is the Number of things you have when u dont have anything.“ Zero, Null, eine Installation aus nichts? Nur fast: 20 Monitore immerhin stehen auf dem Museumsboden. Große und kleine Kuben, ziemlich massiv, genommen an der Leichtigkeit des spielerischen Nichts, das sie zeigen… und verbergen. Sorgfältig aufgereiht sind sie, rhythmisch, fast tänzelnd, aber doch streng parallel zur Linie der 22 Museumsschritte. (Nur ein einziger Abweichler: Er hat mit einer Überwachungs-Kamera den Platz getauscht und zeigt, wie diese Installation entstand.)

Dinosaurier

Dazu Beamer, Diaprojektoren und wie Dinosaurier: Overhead-Projektoren – die letzten Skulpturen? Vier weitere Monitore hängen im Himmel der Installation: In strengem Takt, über alles unterschiedslos hinweg, zeichnet jemand Punkt um Punkt um Punkt um Punkt … Hypnotisch. Langeweile, Melancholie, Vergänglichkeit ..? Da schrecke ich aus der Trance auf und erinnere mich, dass die Arbeit Tuerlinckx‘ ganz einfach sehr schön ist. Und sehr poetisch.

Ich vermute, dass ich hier nachgerade heldenhaft die politischen Aspekte der Arbeit übersehen habe. 


Autor: Jörn Budesheim ist ein Kasseler Künstler und betreibt mit 10 Künstler-Kolleg/innen die Produzentengalerie kunstbalkon. Er ist Mitglied des Vorstands des documenta-forums