18. April 2024

Offener Brief: Stadtplaner und Architekten zum Standort des documenta Instituts

Sehr geehrte Damen und Herren Stadtverordnete,

In der öffentlichen Diskussion am 15.11.2019 zur Bebauung des Platzes Obere Karlstraße mit dem Gebäude für das documenta Institut standen sich insbesondere zwei Positionen gegenüber:

1. Ablehnung einer Bebauung mit diesem Gebäude überhaupt wegen der Nachteile für die Anlieger, unterstützt
durch eine Unterschriftenliste;

2. Bebauung ja, aber nur bei Berücksichtigung unverzichtbarer baukultureller Bedingungen. Um diese geht es im Folgenden. Seit vielen Jahren wird um diesen so zentralen Platz der Innenstadt gerungen (i), insbesondere nach dem Bau der Tiefgarage unter dem Friedrichsplatz. Ihn als Grünfläche (mit einigen Parkplätzen) zu gestalten, könnte ihn zwar ansehnlicher machen, wäre aber angesichts benachbarter großer begrünter Flächen ökologisch nicht erforderlich und auch kein positiver Beitrag zur Belebung der Kernstadt. Mit der Tiefgarage steht ein großes Angebot an Parkplätzen zur Verfügung.

Klar sind wir uns darüber, dass welche Bebauung auch immer keine echte Stadtreparatur wird leisten können, zu gründlich sind die Zerstörungen in der einst von den Hugenotten gegründeten barocken Oberneustadt. So ist die historische Parzellen- und Blockrandbebauung nicht wieder zurückzugewinnen, dazu wurde der Platz nach der Zerstörung zu schmal angelegt. Aber wir müssen die Stadt an dieser Stelle endlich weiterbauen, um Urbanität und Dichte, Atmosphäre und Attraktivität zu erreichen.

Das documenta-Institut bietet die Chance, das „Loch“ in der Stadt mit einer innenstadtverträglichen und unserer Kulturstadt angemessenen Nutzung zu füllen. Angesichts der für eine Bebauung zur Verfügung stehenden Fläche kommt nur ein Baukörper in Betracht, der aber weder ein „Klotz“ noch ein „Pfropf“ (gesehen vom Friedrichsplatz) werden darf. Die Gestaltqualität des Gebäudes bestimmt schließlich die Qualität des umlaufenden öffentlichen Raums; denn seine Außenwand wird die neue Innenwand des öffentlichen Raums und je mehr Attraktionen dieser bietet, desto attraktiver werden die beiden neuen Arme der Oberen Karlstraße, die den Bau umschließen.

Um an diesem Ort die Innenstadtqualität entscheidend zu verbessern, müssen bestimmte städtebauliche Bedingungen zwingend erfüllt werden:

• Der Platz vor der Karlskirche, der eigentliche Karlsplatz, muss erhalten bleiben und in seiner historischen Dimension weitgehend wieder hergestellt werden. So könnte das Gebäude des documenta-Instituts gegenüber dem neu gestalteten Rathauseingang in die historische Bauflucht gerückt werden.

• Stadt lebt von Vielfalt: Das Erdgeschoss des neuen Gebäudes muss rundum öffentlichkeitsbezogene Nutzungen aufweisen, die Passanten und Kunden anziehen und alle Seiten des neuen Vierecks beleben, und zwar während der Öffnungszeiten der Stadt. Das sind einerseits Angebote des documenta-Instituts selbst, wie Ausstellungen zur documenta oder aus dem documenta Archiv; das müssen aber auch adäquate Geschäfte sein. Rundum, dies sei nochmals betont, damit an keiner Seite Rückwärtigkeit entsteht und den heute bestehenden Geschäften ein attraktives Gegenüber geboten wird.

• Das neue Gebäude hat zwei Schmalseiten mit wichtigen Aufgaben: Ein Gegenüber zum neukonzipierten Rathauseingang und auf der anderen Seite einen Magneten für den Blick vom Friedrichsplatz. Hier bildet das Café Nenninger bereits eine attraktive Eingangssituation in Verbindung mit dem Institutsgebäude. So muss auch kein eigenständiges Café im documenta Institut eingerichtet werden.

• Die Obergeschosse müssen Fassaden mit ‚Augen‘ bieten. Soweit Archivräume in Untergeschossen eingerichtet werden, ist sorgfältig mit der historischen Belastung des Standortes umzugehen.

Wir verstehen die Sorge der anliegenden Geschäfte, insbesondere für die Bauzeit, für die ihnen eine Kompensation geboten werden sollte. Auf Dauer aber werden sie gewinnen, denn das neue Gebäude wird ihnen mit seiner lebendigen Erdgeschosszone ein attraktives Gegenüber bieten.

Die von Bund und Land gemeinsam mit dem Anteil der Stadt zur Verfügung gestellte Bausumme für das documenta Institutsgebäude in Höhe von 24 Millionen € ist für Nutzungen des Instituts vorgesehen. Würde der Bau aber auf diese Nutzungen begrenzt werden, so könnte die Stadt Kassel die genannten Bedingungen und damit ihre baukulturelle Aufgabe im Sinne der Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt (ii) an diesem zentralen Ort der Stadt Kassel nicht erfüllen.

Die Stadtverordneten werden daher aufgerufen, ihre Zustimmung zu der Errichtung des documenta Instituts auf dem Platz an der oberen Karlstraße daran zu binden, dass Mittel über den Förderzweck hinaus bereitgestellt werden, um in der Erdgeschosszone für die Öffentlichkeit attraktive und offene Angebote einplanen, bauen und betreiben zu können.

Der Architekturwettbewerb, der zugleich ein städtebaulicher Wettbewerb ist, hat die Anforderungen einer innerstädtischen Nutzungsmischung in Beschreibung der Aufgabe mit aufzunehmen.

Mit freundlichem Gruß

Barbara Ettinger-Brinckmann (Vorsitzende KAZimKUBA e.V)
Marc Köhler (Vorsitzender BDA-im Land Hessen e.V.)
Gerhard Greiner (Vorsitzender BDA-Gruppe Kassel)

(i) Schon 1990 gab es einen Wettbewerb mit dem Titel ‚Stadtplätze – Bauplätze‘, in den 9 vergleichbare ‚Löcher‘ in der Stadt einbezogen waren, z.B der Parkplatz an der Neuen Fahrt, die durch das Haus der GWG und den Florentiner Platz insgesamt aufgewertet ist. Bei diesem Wettbewerb war auch der ‚Platz an der Oberen Karlstraße‘, wie er damals genannt wurde, einbezogen. Alle 17 Wettbewerbsteilnehmer hatten sich seinerzeit für seine Bebauung entschieden.

(ii) Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt. Angenommen anlässlich des Informellen Ministertreffens zur Stadtentwicklung und zum territorialen Zusammenhalt in Leipzig am 24./25. Mai 2007 (https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Nationale_Stadtentwicklung/leipzig_charta_de_bf.pdf, S. 3): Herstellung und Sicherung qualitätvoller öffentlicher Räume: Die Qualitäten von öffentlichen Räumen, urbanen Kulturlandschaften und von Archi- tektur und Städtebau spielen für die konkreten Lebensbedingungen der Stadtbewohner eine zentrale Rolle. Als weiche Standortfaktoren sind sie darüber hinaus bedeutend für Unternehmen der Wissensökonomie, für qualifizierte und kreative Arbeitskräfte und für den Tourismus. Deshalb muss das Zusammenwirken von Architektur, Infrastruktur und Stadtplanung mit dem Ziel intensiviert werden, attraktive, nutzerorientierte öffentli- che Räume mit hohem baukulturellem Niveau zu schaffen. … Die Schaffung und Sicherung von funktionsfähigen und gestalterisch anspruchsvollen städtischen Räumen und Infrastrukturen ist daher eine Gemeinschaftsaufgabe der nationalen, regionalen und kommunalen Behörden, aber auch der Bürger und Unternehmen.