26. April 2024

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“

Die documenta fifteen bietet den Besucher:innen vielschichtige, künstlerisch anregende Positionen zur Gerechtigkeit, zum Stand demokratischer Strukturen, zu dialogischen Strukturen, zur Ökologie dieser Welt, zum Frieden, über Begegnungen auf Augenhöhe unterschiedlicher Geschlechter, Regionen und Lebenswirklichkeiten. Sie ist nach unserer Einschätzung ausgesprochen sehenswert.

Für die antisemitischen Elemente ist sie zu Recht kritisiert worden. Der Schaden, welcher der documenta damit zugefügt wurde, ist erheblich.

Leider haben eine Reihe Kasseler, Wiesbadener und Berliner Debatten der letzten Tage eher verstört, statt Klarheit zu schaffen. Statt eines orientierenden Dialogs der wichtigen Institutionen und der demokratischen Parteien war er eher von punktuellen Selbstdarstellungen und Betonierungen der jeweils individuellen Position geprägt.

Wir bedauern, dass die Bitte des Kuratorenkollektivs Ruangrupa um Entschuldigung und ihre nachdenkliche, ernsthafte und reflektierende Haltung, eventuell inkriminierte Exponate zurückzunehmen, nahezu wirkungslos blieb. Ihre aufrichtigen und selbstkritische Anmerkungen gingen im medialen Aufschrei unter. Große Teile der überregionalen Presse hat ihre Berichterstattung über die vielfältige Kunst auf der documenta nahezu eingestellt. Über 1500 Künstler:innen sind zu Gast in Kassel. Sie haben es nicht verdient, unter Generalverdacht gestellt zu werden. Sie zeigen uns eine andere Sicht auf die Kunst der Welt, das sollten wir wertschätzen und sie hier nach wie vor Willkommen heißen.

Im Kern der Auseinandersetzung geht es um die Freiheit der Kunst. Doch die Freiheit der Kunst hat wie jede Freiheit ihre Grenzen. Dazu zählt die unbedingte Beachtung der Menschenwürde, die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes formuliert wird.

Die Freiheit der Kunst hat zwei Geschwister: Vertrauen und Verantwortung. Sie setzt auf das Vertrauen, dass die Ausgestalter der Freiheit ein gutes Gespür für deren Grenzen haben und diese nicht überschreiten. Freiheit ist ohne Verantwortung nicht zu haben – die Künstler*innen und ihre Institutionen haben die Aufgabe, ihre Verantwortung zu definieren, weil sie sonst ihren eigenen Spielraum gefährden.

Das documenta forum respektiert die selbstkritische Sicht der documenta-Verantwortlichen. Ihre aufreibende Arbeit darf – gerade auch unter Corona-Bedingungen – nicht in Bausch und Bogen verurteilt werden. Statt jetzt vordringlich nach personellen Konsequenzen zu rufen, sollte eine Fehleranalyse erstellt werden. „Es ist ein Unfall passiert, aus einem Unfall kann man lernen.“ (Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank)

Gerade die Kasseler Bürgerinnen und Bürger haben ein großes Interesse daran, dass die documenta nicht allein von negativen Schlagzeilen überschattet wird, statt dessen sollte man auch die Strahlkraft der Ausstellung sehen. Und angesichts der weit über Deutschland hinausreichenden Bedeutung der documenta wäre dringend zu wünschen, dass die Verantwortlichen in Kassel, Wiesbaden und Berlin mehr miteinander als übereinander sprächen. „Ich hoffe noch immer, dass es eine tolle Documenta wird“ hat Miki Lazar in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau deutlich gemacht. Michael Miki Lazar ist Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Kassel wie auch des documenta-Forums. Diesem Wunsch schließt sich der gesamte Vorstand des documenta forums an.


*Überschrift: Friedrich Hölderlin

Beitragsbild:

documenta fifteen: Richard Bell, 2022, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 14.
Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers